Gauckler an der Macht: Heilige Einfalt in der Politik

Dass die Wahl des neuen Bundespräsidenten letztlich zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Alt-Bischof Huber und Pastor Gauck wurde, enthüllt wie kaum ein anderer Sachverhalt die Nöte der deutschen Politik: In einer Zeit, in der rhetorische  Phrasendrescherei an die Stelle politischen Sachverstands getreten ist, wendet man sich hilfesuchend an die wahren Meister dieser Kunst: Theologen.

Die Wahl Gaucks zeigt (trotz der derzeit noch hohen Zustimmungsquoten für den Pastor), wie weit sich die politische Klasse mittlerweile von der Bevölkerung entfernt hat. Denn während in der Gesellschaft religiöse Argumente immer mehr an Bedeutung verlieren, rüstet die Politik in dieser Hinsicht immer weiter auf. Viele Spitzenpolitiker präsentieren sich mit großem Eifer als Spitzengläubige, weshalb sie nicht nur in der Politik, sondern auch in den Kirchen wichtige Posten besetzen (etwa im Zentralkomitee der deutschen Katholiken oder im Rat der evangelischen Kirche in Deutschland). Und natürlich geben sie sich allergrößte Mühe, in ihren Reden die sogenannten christlichen Werte zu beschwören. Allerdings darf man stark anzweifeln, ob die Damen und Herren der Politik auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung haben, worüber sie da eigentlich sprechen.

Nur ein Beispiel unter vielen: Die ehemalige deutsche Familien- und gegenwärtige Sozialministerin Ursula von der Leyen – und sie ist wahrlich nicht die dümmste Vertreterin der Politikergilde, im Gegenteil! – verkündete 2006 vor laufenden Kameras, dass „die ersten 19 Artikel unseres Grundgesetzes im Prinzip die Zehn Gebote zusammenfassen“ würden. Wer hätte das gedacht? Offenbar besitzt die Ministerin eine recht eigentümliche Ausgabe des deutschen Verfassungstextes: Denn seit wann, bitte schön, legitimiert das Grundgesetz Religionszwang und Sippenhaft, Sklaverei und die Unterordnung der Frau unter den Mann – allesamt Inhalte der Zehn Gebote? Andersherum formuliert: Seit wann enthalten die Zehn Gebote unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte (Artikel 1 des Grundgesetzes), das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Artikel 2), die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Artikel 3), die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses (Artikel 4) oder gar die Gewährung von Meinungs-, Presse-, Kunst-, und Forschungsfreiheit (Artikel 5)? Diese Rechte sind im Kanon der Zehn Gebote nicht nur nicht enthalten, sie stehen vielmehr in einem unaufhebbaren Widerspruch zur gesamten Ausrichtung der Bibel!

Nun müsste es uns nicht sonderlich stören, wenn Politiker in ihren Sonntagsreden religiotischen Unsinn verzapfen, würden diese Denkverzerrungen nicht politische Konsequenzen nach sich ziehen. Leider ist genau das der Fall. In Deutschland zeigt sich dies insbesondere in der Privilegierung der beiden christlichen Großkirchen, für die Politiker sogar die Einschränkung verfassungsmäßig garantierter Rechte hinnehmen. So heißt es beispielsweise in Artikel 4 des Grundgesetzes, dass kein Mensch aufgrund seines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses diskriminiert werden darf, doch das hindert die Politik keineswegs daran, die kirchliche Praxis der Diskriminierung mit milliardenschwerem Aufwand zu fördern.

Denken Sie nur an die christlichen Stelleninserate, die tagtäglich in unseren Zeitungen erscheinen. Die implizite Aussage dieser Jobangebote für Ärzte, Psychologen, Krankenpfleger etc. lautet: Juden unerwünscht, Atheisten unerwünscht, Muslime unerwünscht! Und dies in Betrieben, die 100-prozentig öffentlich finanziert werden, wie Krankenhäuser oder Altenheime, für deren Erhalt die Kirchen keinen einzigen müden Cent aufbringen! Konsequenz: Da sich die kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonisches Werk dank großherziger politischer Unterstützung längst zu den größten nichtstaatlichen Arbeitgebern Europas gemausert haben, sind heute Millionen von Menschen faktisch zur Kirchenmitgliedschaft gezwungen, um ihrem Beruf nachgehen zu können. Besonders hart trifft es dabei Angestellte in katholischen Betrieben (Krankenhäuser, Kindergärten, Altenheime etc.), die ihre Arbeitsstelle bereits verlieren können, wenn sie einen geschiedenen Partner heiraten oder sich dazu bekennen, in einer homosexuellen Beziehung zu leben. Fragen Sie sich selbst: Gehört eine solche Diskriminierung ins 21. Jahrhundert? Kann es legitim sein, einen derartigen Grundrechtsverstoß auch noch öffentlich zu finanzieren? Natürlich nicht! Doch bislang ist kaum ein deutscher Politiker auf den Gedanken gekommen, irgendetwas gegen dieses offenkundige Unrecht zu unternehmen.

Führt man sich vor Augen, wie stark das religiotische Syndrom in der Politik verbreitet ist, versteht man, warum die systematischen Menschenrechtsverletzungen, die Abertausende von Heim- und Internatskindern in christlichen Institutionen erleiden mussten, über Jahrzehnte hinweg vollständig ignoriert wurden. Auch begreift man, warum Sterbenden noch immer das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende verwehrt wird. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung längst für eine Liberalisierung der Sterbehilfe eintritt, kommt die Politik auf diesem Gebiet kaum einen Schritt voran. Schuld daran ist nicht zuletzt die religiotische Vorstellung, wir seien bloß „Verwalter, nicht Eigentümer des Lebens, das Gott uns anvertraut hat“, und dürften „darüber nicht verfügen“ (Katechismus der Katholischen Kirche). Wie viel Elend, wie viel unsägliches Leid Schwerstkranken aufgrund solcher abergläubischen Vorstellungen Tag für Tag zugemutet wird, lässt sich kaum in Worte fassen.

Bundes(kirchen)präsident Gauck, einer der prominenten Unterstützer von „Pro Reli“ in Berlin, wird an diesen Zuständen mit Sicherheit nichts ändern wollen – ebenso wenig wie er die Absurditäten des internationalen Finanzsystems in gebotener Deutlichkeit kritisieren wird. Seine vornehmste Aufgabe wird darin bestehen, wohlklingende Predigten über die „Liebe zu Deutschland“ und die „Liebe zur Freiheit“ zu halten. Insofern ist Joachim Gauck tatsächlich ein hervorragender Repräsentant der politischen Klasse in Deutschland.

Die Frage jedoch ist: Wie lange werden sich die Menschen hierzulande noch derart vergauckeln lassen? Wann endlich werden sie den „Gaucklern an der Macht“ die rote Karte zeigen?  Nur unter dieser Voraussetzung werden wir nämlich in der Lage sein, Verhältnisse herzustellen, in denen „Freiheit“ mehr ist als eine hohle politische Phrase.

12 Gedanken zu „Gauckler an der Macht: Heilige Einfalt in der Politik

  1. Ich fühle mich inzwischen so, dass ich es die „Unerträglichkeit des S(ch)eins“ nennen würde – Copyright des Zitats ;-).
    Bitte Herr Schmidt-Salomon.
    weitermachen!

    Danke

  2. Gaucks heutige pastorale Rede:
    zur Vereidigung:
    Zitat:“[…]Gott (Anm.: !!!!!!!) und den Menschen sei Dank[…]“
    Aargh, ich halte es echt nicht mehr aus!
    Standing Ovation im Bundestag.
    Es ist schier unerträglich.

  3. Immer wieder wird das Christentum als abendländische Kultur zitiert.

    Aber sry, das ist eine Wüste(n)philosophie, die uns vor rund 1700 Jahren von den römischen Imperatoren aufgezwungen wurde!

    Das hat nix, aber auch gar nix mit unserem Abendland zu tun!

    Wir sollten endlich beginnen selbstständig zu denken, statt unterwürfig irgendwelchen Geistgestalten die Füsse zu lecken, und uns dabei noch wie gehorchsame Sklaven wohl zu fühlen!

  4. „Wir sind Präsident“, jubelt die „Christ & Welt“, die heute der Wochenzeitung „Die Zeit“ beiliegt. „Evangelische Pfarrer retten die Politik – das tut der deutschen Seele mit ihrem protestantischen Glutkern gut“. Der Autor erläutert auf Seite 2, dass er Gott gefühlt hat und ihn „fast gesehen“ hätte. Er muss es also wissen. In derselben Ausgabe wird in einem Kommentar die Notwendigkeit des Glaubens an die Hölle verteidigt – „denn das Gute braucht das Böse“. Man darf gespannt sein, was die Präsidentschaft von Joachim Gauck sonst noch hervorbringt.

  5. „Wir sind Präsident“, jubelt die „Christ & Welt“, die heute der Wochenzeitung „Die Zeit“ beiliegt. „Evangelische Pfarrer retten die Politik – das tut der deutschen Selle mit ihrem protestantischen Glutkern gut“. Der Autor erläutert auf Seite 2, dass er Gott gefühlt hat und ihn „fast gesehen“ hätte. Er muss es also wissen. In derselben Ausgabe wird in einem Kommentar die Notwendigkeit des Glaubens an die Hölle verteidigt – „denn das Gute braucht das Böse“. Man darf gespannt sein, was die Präsidentschaft von Johannes Gauck sonst noch hervorbringt.

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  7. Noch ein Nachtrag zu „Gauckler an der Macht“: Wer wird wohl Gaucks rechte Hand, also neuer Staatssekretär im Bundespräsidialamt? Heute meldeten die Agenturen, David Gill werde den Posten übernehmen. Sein aktueller Job: Er ist stellvertretender Bevollmächtigter des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland und dort Spezialist für Staatskirchen- und Steuerrecht…

  8. Zu schade, dass gerade diejenigen, die diesen Text lesen müssten, sich wohl kaum die Zeit nehmen werden, der Ermahnung eines Atheisten zu folgen.

  9. Es wäre wirklich interessant, Pastor Gauck bei einem Interview zu der o.g. Diskriminierung zu befragen. Schließlich kritisiert er zurecht die Einschränkung der Berufsfreiheit in der DDR, die einen treffen konnte, wenn man kein Mitglied der SED war.
    Er beschreibt in einer Rede – passenderweise bei einem Ärztekongress – wie man dazu genötigt wurde, in die Partei einzutreten, wenn man sich für eine bestimmte Stelle bewarb. Da muss man nur ein paar Worte austauschen und hat ein tolles Plädoyer gegen die existierende Diskriminierung in Krankenhäusern und Altenheimen 😉
    Quelle: http://www.techcast.com/dkouimweb/2011/mi04/) ca. ab 13:00

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